Freitag, 2. August 2013

YouTube interpretiert: Charlie bit my finger – again !


Der britische Film Charlie bit my finger – again ! aus dem Jahre 2007 ist das beliebteste Video auf der Plattform YouTube, bei dem es sich nicht um ein professionelles Musikvideo handelt. Es wurde bereits über 500.000.000 mal angeschaut und sorgte sowohl für den Produzenten, Regisseur und Kameramann Howard Davies-Carr, als auch für die beiden Darsteller Harry und Charlie Davies-Carr für erhebliches öffentliches Interesse und Ruhm.

In dem 56 Sekunden kurzen Filmwerk wird die Geschichte vom dreijährigen Harry erzählt, der im Spiel mit seinem ein Jahr alten Bruder Charlie von jenem in den Finger gebissen wird. Nach anfänglicher Erheiterung versucht Harry das Erlebnis zu replizieren, stellt nun aber fest, dass der Biss seines Bruders durchaus schmerzhaft sein kann.

Stilistisch und formal ist Charlie bit my finger – again ! in der Form eines gewöhnlichen Home Videos gehalten, es handelt sich um ein so genanntes One Shot Video, es weist also keinerlei Schnitt auf und ist daraus folgend auch mit lediglich einer einzigen Kamera aufgenommen worden. Kulisse, Kostüm und Maske sind dezent bieder gehalten und auch das Instrument Sprache wird zurückhaltend eingesetzt, Harry besetzt die einzige Sprechrolle in dem Film.

Es wird also gezielt der Eindruck erweckt, als handle es sich bei Charlie bit my finger again ! um ein banales Video, möglicherweise, um den Betrachter auf die Alltäglichkeit und Omnipräsenz der zwischen den Zeilen aufgegriffenen Thematik hinzuweisen und die beinahe schon apathisch-ignorante Gleichgültigkeit, mit welcher wir Gewohnheitstiere uns mit dem Problem abgefunden haben, zu verdeutlichen.

Charlie bit my finger – again ! ist eine Parabel für das Verhältnis zwischen Staat und Bürger, zwischen Lenker und Gelenktem. Harry, der in dem Film ein T-Shirt mit der Aufschrift "England" trägt, steht hierbei offensichtlich für den Staat England, vielleicht sogar für das britische Königshaus, was durch die königsblaue Farbe besagten Hemdes nahegelegt wird. Die Macher des Films bedienen sich hier mit dem großen Bruder eines beliebten und bekannten Sinnbildes für den oppresiven Staatsapparat, bereits in Aldous Huxleys 1984 stand der Big Brother für einen totalitären Diktator. Im Gegensatz zu Huxleys großem Bruder handelt es sich bei Harry jedoch um einen vergleichsweise volksnahen Herrscher oder Machtapparat.

Der Bürger, repräsentiert durch den schwächeren, kleinen Bruder Charlie, ist auf dem Schoß des großen Bruders platziert, die beiden teilen sich gemeinsam eine Decke. Auf den ersten Blick wirkt dies harmonisch und wohlwollend von Harry, was sicherlich auch der Eindruck ist, den Harry, also die oppresive Obrigkeit, nach außen hin sowie Charlie gegenüber vermitteln möchte. Die scheinbare Nähe zum Volk könnte aber auch als Strategie zur besseren Kontrolle und Überwachung interpretiert werden. "Halte deine Freunde nah bei dir, aber deine Feinde nöch näher" rät schon Sunzi in Die Kunst des Krieges.

Das Bestreben des großen Bruders, seinem Untergebenen als Freund und Gefährte zu erscheinen zeigt sich auch in den Reaktionen Harrys in der Interaktion mit Charly. Beim ersten Biss gibt sich Harry noch amüsiert, gibt zwar schon ein warnendes "Charlie!" von sich, maskiert dieses aber mit einem Lachen. Dass Harry den Vorfall mit diesem Lachen aber keineswegs abtut und den Vorfall auf sich beruhen lässt, zeigt sich in der Äußerung "Charlie bit me!" Diese Aussage wirkt so, als wollte sich der große Bruder den Sachverhalt noch einmal vor Augen führen und seine Implikationen ausmachen. Harry scheint bewusst zu werden, dass Charlie keineswegs harmlos, oder auch "zahnlos", ist und dass die ihm gebotenen (Brot und) Spiele nicht ausreichen, um ein Aufbegehren zu verhindern, vielmehr scheint Charlie Gefallen an diesem bisschen zivilen Ungehorsam zu finden, wie dessen Mimik, die sowohl als Grinsen, als auch als Zähne zeigen verstanden werden kann. Diese Erkenntnis spiegelt sich in dem versteinerten Halblächeln auf Harrys Gesicht wieder. Als Charlie dann auch beim zweiten Mal in den wie zum Test hingehaltenen Finger beißt und dabei noch offener Schadenfreude erkennen lässt, weicht die Maske des wohlgesonnenen großen Bruders vollends aus Harrys Gesicht und er wird Charlie gegenüber laut, um die Machtverhältnisse klarzustellen. In den darauf folgenden Sekunden lässt der leere Gesichtsausdruck Harrys darauf schließen, dass eine neue Strategie, den "kleinen Bruder" unter Kontrolle zu halten, erarbeitet wird. Ist diese gefunden, kehrt das scheinbar freundliche Lächeln zurück in das Antlitz des Machthabers und seine Hand, oder auch der Arm als Sinnbild für die Exekutive, verschwindet unter der Decke, in den Untergrund also. Dies kann als Abkehr von der offenen Konfrontation hin zu verdeckteren Methoden wie im Verborgenen agierenden Geheimdiensten verstanden werden. Doch, und hier endet das Werk mit einem offenen Ende, auch dies scheint Charlie nicht vom Geschmack der neu gefundenen Souveränität abzubringen, denn er beugt sich erneut zum Beißen dem nun verborgenen Finger entgegen.

Charlie bit my finger – again ! kann also als Warnung verstanden werden. Sowohl als Warnung vor der Gefahr, einen vordergründig freundlichen Despoten nicht als der Tyrann der er ist zu erkennen, in Richtung Charlies, oder eben der Bürger, andererseits aber auch als Mahnen in Richtung der Obrigkeit, dass sich die Untergebenen eben nicht täuschen lassen und sich mit ihren bescheidenen Mitteln durchaus zu wehren wissen. Den Ausgang des Konflikts zwischen Herrscher und Bürger scheint der Film offen zu lassen, was als Zeichen für die fortwährende Natur jenes Konflikts interpretiert werden kann, es wirkt jedoch so, als wollen die Macher andeuten, dass letzten Endes Charlie siegreich sein wird. Dies zeigt sich zum einen darin, dass der Film kurz vor dem Höhepunkt eines weiteren Aufbäumens Charlies endet, zum anderen unterstützt der Titel des Videos diese These. Anders als im Englischen üblich wird einzig ein Wort groß geschrieben: Charlie. Er scheint den Titel, und somit auch den ganzen Film zu dominieren. Ebenfalls fällt auf, dass zwischen dem Wort again und dem abschließendem Ausrufezeichen im Titel eine Leerstelle gelassen wurde, als wolle der Macher die Möglichkeit offen lassen, an dieser Stelle noch beliebig oft "and again" einzufügen. Auch die Tatsache, dass Charlie als einzige Person im Titel genannt wird, obwohl es doch eigentlich Harry ist, der im Film scheinbar die Macht besitzt und auch die einzige Sprechrolle besetzt, kann so verstanden werden, dass Harrys Vorherrschaft eben doch nur eine Illusion oder ein vorübergehender Status ist, in Wirklichkeit und auf lange Sicht gesehen die wahre Macht bei Charlie, dem kleinen Mann, gehört.

Bei Charlie bit my finger – again ! handelt es sich um ein revolutionäres, aufrührerisches Stück Zeitgeschichte, das, wie es historisch gesehen bei derlei Werken so oft der Fall ist, als Komödie getarnt wie ein Wolf im Schafspelz daherkommt. Obwohl der Film mittlerweile über ein halbes Jahrzehnt alt ist, scheint er jetzt, zu Zeiten von Prism und Co. nichts an Aktualität verloren zu haben.

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