Donnerstag, 8. August 2013

YouTube interpretiert: David After Dentist


David After Dentist aus dem Jahre 2009 ist mit über 120 Millionen Views eines der beliebteten filmischen Werke auf dem Videoportal YouTube. Für den Macher bedeutete es den finanziellen Durchbruch, durch die Vermarktung des Videos und dazugehöriges Merchandise wie zum Beispiel T-Shirts konnte es mit dieser Low Budget Produktion massive Gewinne einfahren.

Das Video zeigt einen siebenjährigen Jungen, der nach einer kieferorthopädischen Operation die Folgen einer Vollnarkose durchlebt.

Wie für die Plattform YouTube nicht unüblich, ist das Video im Stil eines Heimvideos gehalten. Es ist sehr minimalistisch gehalten, es gibt nur einen Drehort, einen Darsteller sowie eine Stimme aus dem Off. Kostüm und Maske geben sich dezent und alltäglich, auf Soundeffekte oder gar einen Soundtrack wurde gänzlich verzichtet.

Rein formal erinnert David After Dentist also stark an das letzte Woche behandelte Video Charlie bit my finger – again ! und auch das Thema, eine scheinbar banale Szene aus dem Leben eines Kindes, weckt Assoziationen zu dem Branchenprimus. Die Aussagen der beiden Filme sind allerdings sehr verschieden. Während in Charlie bit my finger – again ! eine gesellschaftliche Parabel zu erkennen ist, behandelt David After Dentist in erster Linie ein sehr viel individuelleres Problem: die innere Unrast beim Erwachsenwerden, wobei auch in diesem Werk ein gewisses Maß an Gesellschaftskritik zu erkennen ist; namentlich Kritik daran, dass Kindern in unserer schnellebigen Welt kaum noch Zeit zum Kindsein gegeben wird und sie von der hektischen Leistungsgesellschaft immer früher in die erwachsene Welt von Selbstständigkeit und Verantwortung gedrängt werden.

Der Übergang von Kindheit zu Pubertät ist fließend und, gerade für den Heranwachsenden selbst kaum wahrnehmbar. In David after Dentist wird dies dadurch verdeutlicht, dass der Film mitten in einem Satz des Protagonisten einsteigt, er hat also keinen klassischen Anfang und der Zuschauer wird ohne Vorbereitung in die Erlebenswelt Davids katapultiert. Auf die einleitende Frage seines Vaters "How did it go?" antwortet David: "I didn't feel anything." Hiermit wird die bereits erwähnte schleichende und oft auch überraschende Natur des Heranwachsens verdeutlicht. Dass lediglich der Eintritt, nicht jedoch der Prozess der Pubertät oft unbemerkt bleibt, zeigt Davids nachgeschobene Äußerung "I feel funny!". Der Vater reagiert auf diesen versteckten Hilfeschrei seines Sohnes nicht etwa mit Unterstützung, sondern mit einem vermeindlich wissenden "Kinda felt good, didn't it?". Diese latent bevormundende Art von Eltern, die meinen, von ihren längst vergangenen Erfahrungen auf das momentane Erleben ihres Heranwachsenden Nachwuchses schließen zu können, ist ein häufiges Problem eben jener Jugendlicher, die sich nicht ausreichend ernstgenommen fühlen. Ein weiteres Beispiel für dieses elterliche Unverständnis für die von ihren heranreifenden Jugendlichen empfundene Orientierungslosigkeit zeigt sich etwas später in dem Wortwechsel: "I can't see anything" – "Yes, you can!"

Davids nächster Satz, "Is this real life?", verdeutlicht nicht nur sehr gut die von pubertierenden oft wahrgenommene Orientierungs- und Haltlosigkeit, sondern stellt auch eine sehr deutliche Anlehnung an das Lied Bohemian Rhapsody von Queen dar ("Is this the reals life? Is this just fantasy?"). Obwohl um die Intention besagten Liedes vom Texter Freddie Mercury stets ein großes Geheimnis gemacht wurde und selbst Experten diesbezüglich geteilter Meinung sind, so ist eine dennoch oft vertretene Interpretation, dass das Lied das Erkennen und Arrangieren des lyrischen Ichs mit seiner homosexuellen Veranlagung beschreibt. Obwohl ein solches Erlebnis nicht zwangsläufig an ein bestimmtes Alter gebunden ist, so ist, etwas allgemeiner betrachtet, die Idenditätssuche und -findung doch ein zentraler Aspekt der Jugendjahre, was die Interpretation stützt, dass sich David After Dentist mit eben jenem Abschnitt im Leben eines Menschen befasst.

Das Entdecken des eigenen Körpers ist ein wichtiger Prozess in der Entwicklung eines Kindes. Dieser Prozess beginnt zwar bereits im Vorschulalter, wird, nicht zuletzt durch neue und veränderte Entwicklungen im entsprechenden Alter, in der Pubertät aber besonders intensiv empfunden und gezielt vorangetrieben. In David After Dentist wird dieser bisweilen verwirrende Prozess ebenfalls thematisiert: "Oh, now I... I've two fingers!", "I have four fingers". Statt diesen Vorgang zu fördern, wird er vom Vater aus dem Off im Gegenteil eher ausgebremst: "Don't put that in– Don't put it in your mouth!"

Ein häufiger Konfliktpunkt zwischen Pubertierenden und ihren Eltern ist das Bestreben der Kinder, sich von ihren Eltern zu emmanzipieren, weshalb sie gelegentlich aufbegehren und sich der Bevormundung durch ihre Erziehungsberechtigten zu widersetzen. In David After Dentist zeigt sich dies in dem Aufbäumen Davids aus seinem Autositz, welches von einer non-artikulativen, nahezu schon primalen Interjektion begleitet wird. Dabei lässt sich David nicht von der Aufforderung "Stay in your seat!" beirren.

Der Film David After Dentist enthält, wie diese Interpretation zeigen konnte, die zentralen Aspekte einer Coming of Age-Story, doch ist in dem Film,wie eingangs bereits erwähnt auch Gesellschaftskritik zu erkennen. Immer öfter werden Kinder hatuzutage verfüht zu Erwachsenen gemacht, nicht zuletzt von der Wirtschaft, die in diesem Prozess die durchaus lukrative Vergrößerung der so gewinnbringenden Zielgruppe für Kosmetika, Parfums, Kleidung und ähnliches erkennt. Kinder, die im Allgemeinen das Erwachsenwerden kaum Abwarten können, sind hierbei durchaus kooperative Opfer, die damit verbundenen Pflichten und Erwartungen sind dabei allerdings bisweilen schlicht zu viel für das Kind. Die Tatsache, dass David gerade einmal sieben Jahre alt ist,kann als mahnendes Sinnbild fürdiese gesellschaftliche Entwicklung verstanden werden. Dass Davids Vater durch exzessives Marketing des Ruhms seines Sohnes erhebliche Gewinne einstreichen konnte, entbehrt im Lichte dessen nicht einer gewissen tragikomischen Ironie.

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